Manche Flechten heben sich farblich nur geringfügig von der Borke eines Stammes oder von einem Felsen ab. In dezentem Grau, Braun, Rot, Grün oder Gelb hängen sie von Ästen oder bedecken Baumstämme, Felsen und Mauern. Sie können ruhig dort belassen werden, denn sie richten keinen Schaden an. Sie sind wichtig als Futter für Vögel und Insekten. Ausserdem gelten Flechten als wichtige Indikatorpflanzen für die Umweltverschmutzung, da sie auf Veränderungen sehr sensibel reagieren.
Aus botanischer Sicht stecken in einer Flechte zwei Lebewesen, ein Pilz und eine Alge, die sich zu einer Symbiose verbunden haben. Die Alge ist zuständig für die Assimilation. Sie nimmt Kohlendioxid auf und verwandelt es unter Lichteinfluss in chemischen Prozessen zu Traubenzucker und Sauerstoff. Der Pilz umschlingt die Alge und ist gleichzeitig für die Verankerung und die Wasseraufnahme zuständig.
Als einfache Pflanze besitzt die Alge keine Wurzeln. Sie nimmt Luft, Staubpartikel oder Niederschläge direkt auf und wandelt sie in Nährstoffe um. Sie gilt als Pionierpflanze, die sich auch an extrem unwirtlichen Standorten ansiedeln kann. Die Flechte verfügt nicht wie andere Pflanzen über eine Wachsschicht oder über verschliessbare Spaltöffnungen (Blätter), die sie vor schädigenden Einflüssen schützt. Sie ist somit Umwelteinflüssen direkt ausgesetzt und reagiert stark darauf. Bei einer mittleren Luftverschmutzung wachsen die meisten Flechten kümmerlich, bei starker Verschmutzung sterben sie schliesslich ab. Besonders empfindlich auf Verschmutzungen reagiert die Bartflechte (Usnea), die nur noch selten in den einheimischen Bergwäldern zu finden ist.
Das Wachstum von Flechten ist sehr langsam. Einheimische Baumflechten wachsen nur 1–4 mm im Durchmesser pro Jahr. Noch viel langsamer wächst die Landkartenflechte (Rhizocarpon geographicus), die es gerade auf 4 mm in 100 Jahren bringt. Manche der gefundenen Landkartenflechten weisen ein beträchtliches Alter von bis zu 9000 Jahren auf.
In der Schweiz sind 2000, weltweit 20'000 Flechtenarten bekannt. Sie wachsen auch an extremen Standorten wie im Hochgebirge, in der Antarktis oder in den Tropen. Selbst ein siedend heisser Untergrund, in Form eines Steins, der 80 Grad heiss ist, bringt eine Flechte nicht ins Schwitzen. Auch tiefe Temperaturen bis zu minus 48 Grad schaden ihr nicht, da spezielle Säuren wie eine Art Frostschutzmittel wirken.
Flechten können problemlos auch auf «modernen» Materialien wie Glas, Blech oder Beton, wachsen. Auf einem schattigen Boden sind kaum Flechten zu finden, da die Konkurrenz zu anderen Pflanzen zu stark wäre. Sie fühlen sich an exponierten Standorten auf Bäumen oder kahlen Felsen wohl, wo es genügend Licht und Luft gibt.
In verschiedenen Kulturen wurden Flechten für unterschiedliche Zwecke eingesetzt: Die Alten Ägypter verwendeten Flechten für die Einbalsamierung ihrer Mumien. Die Färberflechte wurde im 18./19. Jahrhundert zum Färben von blauen, roten und violetten Textilien verwendet. Die einzige giftige Flechte, die Wolfsflechte, wurde Fleischködern beigegeben und hatte dadurch eine tödliche Wirkung. Selbst die Medizin konnte nicht auf Flechten verzichten: Isländisches Moos dient als Grundlage für Hustenpastillen und Tees. Die Wirkstoffe der Bartflechte wurden zu einem Antibiotikum verarbeitet.
Ein älterer Baumbestand, der mit intakten Flechten besetzt ist, ist ein Zeichen für gute Umweltbedingungen. Auch junge Bäume oder Sträucher, die Sie in der Baumschule oder im Gartencenter kaufen, können bereits Flechten aufweisen. Lassen Sie die Flechten an der Borke, denn sie beeinträchtigen das Wachstum nicht. Sie schützen die Bäume sogar vor Pilz- und Bakterieninfektionen.!